Lettre International | Herbst 2009 | Berlin auf der Couch

Lettre aktuell Nr. 3/2009

Lettre International Nr. 86 / Berlin auf der Couch

Liebe Leserinnen und Leser,

“Berlin müsste Stadt der Intellektuellen und der Elite sein, aber die Stadt in ihren politischen Strömungen ist nicht elitär aufgestellt, sondern in ihrer Gesinnung eher plebejisch und kleinbürgerlich”, sagte der frühere Finanzsenator und jetzige Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin in einem ausführlichen Hintergrundgespräch mit Lettre International, das schon im Vorfeld für großes Aufsehen sorgte. Das vollständige, weit über die Schlagzeilenlogik der Medien hinausgehende Hintergrundgespräch zur ökonomisch-sozialen Lage der ostelbischen Metropole lesen Sie in der heute erscheinenden Lettre International.

Berlin auf der Couch ist das Motto der Lettre-Sondernummer anlässlich des 20. Jahrestags des Mauerfalls. Über hundert internationale Autoren und Künstler haben wir eingeladen, mit Inspiration und Beobachtungsgabe, analytischer Kraft und Erinnerungsvermögen einen so wohlwollenden wie scharfen Blick auf den großen Umbruch und seine Folgen in Berlin und Europa zu werfen.
Ein reiches Doppelheft von 256 Seiten mit Essays, Erzählungen, literarischen Reportagen, Gesprächen, Erinnerungen, Konzepten, Zahlen und Fakten sowie mit überraschenden und originellen Zeichnungen, Malerei und Photographien ist daraus entstanden.
Die in Berlin lebende polnische Künstlerin Ewa Einhorn lieferte das Motiv für den Lettre-Titel, ein Berliner Bär auf dem Operationstisch, mit geöffnetem Bauch, dem die Mauertrümmer, an denen er sich überfressen hat, schwer zu schaffen machen. Noch im Koma verlangt er nach einer Currywurst.
Gespräche wie das mit Thilo Sarrazin, mit dem Kulturtheoretiker Boris Groys oder dem Urbanisten und Architekturkritiker Nikolaus Kuhnert diagnostizieren strukturelle und mentale Befindlichkeiten der deutschen Hauptstadt. Die vielfältigen Arbeiten von Autoren und Künstlern sichten, belauschen, erwandern, erschließen, imaginären die Stadt. Sie hinterfragen die ständige Selbstmythologisierung der Stadt und liefern Beiträge für ein reflektiertes Selbstverständnis Berlins zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Moderne und Rekonstruktion.
Hinzu kommen die Stimmen aus der Geschichte Berlins, ein umfangreicher Zitatenschatz aus Literatur- und Geistesgeschichte, den Lettre gesammelt hat. Hinzu kommt auch die Sprache der Zahlen, ein aufschlussreiches, mitunter erschütterndes und manchmal amüsantes Porträt in Statistiken. Das Heft strotzt vor kühlen Analysen und sensiblen Beschreibungen, Liebeserklärungen und Wutausbrüchen, Projektionen und Assoziationen zu Berlin, zu Deutschland und zu Europa zwanzig Jahre nach dem Mauerfall.
Wir hoffen, mit der aktuellen Ausgabe von Lettre International die Diskussionen um die Rolle von “Berlin” in Europa – als internationale Metropole, als Stadt der Künste, als Schnittpunkt von Kulturen, als urbanes Modell, als Hauptstadt, als Provinz -beleben zu können.
Ab heute liegt die Sonderausgabe “Berlin auf der Couch” von Lettre International am Kiosk und im Buchhandel, an Bahnhöfen und Flughäfen oder ab Verlag (www.lettre.de) für Sie bereit.

MYThos BERLIN
Provokant: “Berlin wird niemals von den Berlinern gerettet werden können”, sagt der frühere Berliner Finanzsenator und jetzige Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin in einem Gespräch und äußert sich zu den brennenden Problemen der Bevölkerungsentwicklung und der Immigration, zu Integration und Elitenförderung, zur Qualität der Stadtverwaltung und zur ökonomischen Zukunft Berlins. Klasse statt Masse. Der Originalwortlaut des thesenstarken Gesprächs hat Aufmerksamkeit verdient.
Schonungslos: Der Architekturtheoretiker und Urbanist Nikolaus Kuhnert dekonstruiert den Mythos Berlin, die Mär von der Mitte und das Schlagwort der kreativen Stadt. Stadtplanungsvorhaben und ihre Philosophien, Schlossträume und Preußenrenaissance werden dabei auf Festigkeit und Konsistenz abgeklopft.
Brisant: Der Berlin-Experte Friedrich Ochs hat die Auftragsvergabe für das Preußenschloss in Augenschein genommen und entflicht die obskuren Machenschaften hinter der Entscheidungsfindung, bei denen staatliche Stellen, ein Förderverein und städtische Instanzen ihre Finger im Spiel hatten.
Detailliert: Was ist dran am neuen Zauberwort der “kreativen Stadt”, das sich der Senat auf die Fahnen geschrieben hat, fragt der Kultursoziologe Andreas Reckwitz und erläutert die Selbstkulturalisierung des Urbanen im ästhetischen Kapitalismus.
Vielstimmig: 15 Hauptstädter, die, ob gewollt oder nicht, der “kreativen Klasse” zugerechnet werden, geben Auskunft über Vorteile, Lebensqualitäten und Unerträglichkeiten, über Zukunftsaussichten und Heimatgefühle in Berlin.
Bahnbrechend: Der Humboldt-Forscher Ottmar Ette entwirft ein wahrhaft kosmopolitisches Konzept für das geplante, umstrittene Humboldt-Forum und verteidigt seinen Namensgeber Alexander von Humboldt gegenüber jenen, die ihn vereinnahmen.
Überraschend: Von der Austauschbarkeit der Städte, vom beiläufigen Raum, von den Routinen des Alltags, die sich in allen entwickelten Städten angleichen, davon, dass man überall und sofort zu Hause sein kann, träumt der Stadtplaner Wilhelm Klauser.
Grundlegend: Was ist eine Stadt? Fragt der New Yorker Essayist Eliot Weinberger.

Augen auf berlin
Berlin der Utopie: Evgen Bavcar, der blinde Photograph und Kulturhistoriker aus Slowenien erinnert sich an die Träume, die Hoffnungen und Illusionen, die er mit einem Berlin nach dem Mauerfall verband und verbindet.
Jurassic Park des realen Sozialismus: Auch der Philosoph Boris Groys erkennt in Berlin einen liebenswerten Ort der Utopie, an dem nichts produziert wird außer dem angenehmen Leben, und kritisiert zugleich die Absage an die Moderne, wie sie sich im Abriss des Palastes der Republik manifestiert.
Berlin hat’s schwer: Dem verzweigten Konfliktgeschehen in einer Stadt aus zwei Städten, aus zwei Kulturen, aus zwei Geschichten folgt Sigrun Anselm, Soziologin an der FU. Wann endlich geht man von der Usurpation zur Vereinigung über?
Zwei Türme plus einer: Der flanierende Sherlock Holmes der britischen Inseln Iain Sinclair wandert mit filmischem Blick, geschärftem Verstand und historischem Bewusstsein vom Alexanderplatz zum Olympiastadion und zum Einsteinturm. Feldforschungen in historischen Tiefenschichten Berlins.
Im Grundewald: Die israelische Musikologin Judit Nirán liest, belauscht und erträumt die Spuren ihrer aus Berlin deportierten jüdischen Vorfahren in Berlin.
Vorposten zur Steppe: Der Direktor des Italienischen Kulturinstituts in Berlin, der Philosoph Angelo Bolaffi, erkennt in der geografischen Exzentrik Berlins eine besondere Schönheit.
Hochstapler: Über zehn Jahre hat der Korrespondent der Financial Times James Woodall in Berlin verbracht und erlebt wider die in angelsächsischen Ländern gepflegten Klischees ein frisches und farbiges Berlin, ein Berlin des Experiments und der Neuerfindung.
Im magischen Wald: In den magischen Wald einer Stadt, die eigentlich gar keine Stadt ist, begibt sich der Italiener Beniamino Brogi.
Janusgesichter: In das russische Berlin eines Vladimir Nabokov spiegelt Michail Ryklin, Philosoph und langjähriger Lettre-Autor, sein zeitgenössisches Berlin.

Stimmen über berlin
“Berlin riecht man im Umkreis von neun Kilometern.” Ein Porträt Berlins aus mehr als 100 Zitaten tuscheln Lästerzungen und Kritikaster, Melancholiker und Enthusiasten, Pragmatiker und Melancholiker. Splitter und Fragmente, Meinungen und Beobachtungen aus sieben Jahrhunderten Stadtgeschichte von Diplomaten und Wissenschaftlern, Künstlern und Baumeistern, Autoren und Dichtern.

Erinnerungen an Berlin
Dixieland in Deuxiland ist eine wunderbare Satire über das Berlin der Nachkriegszeit, über die territorialen und mentalitätsformenden Merkwürdigkeiten des Kalten Krieges aus der Feder des georgischen Berliners und deutsch schreibenden Romanciers Giwi Margwelaschwili.
Produktion West: Wolfgang Müller, Gründer der legendären Tödlichen Doris, berichtet über Punk und Underground, Musikindustrie und Kunst, über Hausbesetzer und die Aura der wilden achtziger Jahre im Schatten der Mauer.
Durchlauferhitzer: An das Leben in der Szene und seine Begegnungen mit Foucault, Baudrillard, Cage, Lyotard und Heiner Müller oder Martin Kippenberger erinnert sich Peter Gente, der Macher des Merve-Verlags.
The German Issue: Philosoph Sylvère Lotringer schildert Westberlin als Faszinosum, Spiegel und Resonanzraum New Yorks.
Warum die DDR am Design gescheitert ist? erläutert Harry Lehmann in seinem kulturgeschichtlichen Essay und zeigt, dass die Wende in Wahrheit eine ästhetische Revolte zur Rückeroberung des Fetischcharakters der Ware war.
Tagebuch des Teufels: Wie diabolisch das erste Jahr der Wende war, welch anrüchige Wege und mephistophelischen Volten sie und manch einer ihrer Protagonisten nahm, lässt uns der Drehbuchautor Thomas Knauf lesen.
Polenmarkt von Karl Schlögel war einer der ersten Texte, der das Selbstgefühl der Stadt in einer neuen politischen Geographie reflektierte. Eine Wiederveröffentlichung.
“Ick bin Osso und meene Frau is Ossa. Ossi is Plual!” Stimmen aus dem Ostberliner Milieu, das Lebensgefühl der Wendeverlierer registriert Jochen Proehl in seiner Erzählung Atelierbesuch.
Irrgarten einer Stadt: Abenteuer und karnevalistische Grotesken, Verirrungen und merkwürdige Begegnungen in einer geteilten Stadt erlebt der mexikanische in Ostberlin tätige Diplomat und Schriftsteller Juan Villoro.

HAUPTSTADTEXPERTISE
Über 40 Prozent aller Begräbnisse in Berlin erfolgen 2007 anonym. 1992 waren es noch 22 Prozent. Wie viele Patentanmeldungen, wie viele Füchse, wie viele Leberkranke oder wie viele ausländische Studenten gibt es in Berlin? Diese und viele andere Fragen beantwortet eine umfassende Statistik zu Berlin und enthüllt dabei Überraschendes und Ernüchterndes, Kurioses und Erheiterndes.

Die Dynamik von 1989
Ein großes Panorama des Umbruchs 1989 mit seinen unterschiedlichen Dynamiken in Polen, Ungarn, Tschechien, Rumänien, der DDR und der Sowjetunion erstellt der Europaexperte Jacques Rupnik. Er vergleicht die unterschiedlichen Prozesse der Emanzipation von der Partei und gewinnt den dem Zusammenbruch des Kommunismus vorlaufenden Ereignissen noch unbekannte Konturen ab.

Das Ende des Kommunismus
Russland: Zwei Freundinnen, die eine davon Parteisekretärin, erinnern sich an die letzten Jahre der Sowjetunion, an Perestroika und Glasnost, an Gorbatschow und Jelzin und versuchen sich zu erklären, was eigentlich in den Neunzigern mit ihnen, mit Russland und der großen Idee des Kommunismus geschehen ist. Die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch hat ihre verstörenden Erfahrungen und lebensgesättigten Überzeugungen auf literarisch großartige, intensive Weise dokumentiert.
Tschetschenien: Was der endlose Krieg im Kaukasus anrichtet unter den Jungen, unter denen, die von der Liebe träumen, oder vom Fliegen, die die Liebe besingen wollen und in den Krieg ziehen müssen, erzählt der tschetschenische Dichter German Sadulajew
Georgien: Auf kaukasischem Terrain sind Traum und Mythos eng verknüpft mit Fragen der Geopolitik. Der Berliner Schriftsteller Carsten Probst sondiert auf einer Reise durch Georgien, was der Mauerfall für den Kaukasus bedeutete.
Mitteleuropa: Der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi lässt in einer Erzählung Erinnerungen eines ungarischen Offiziers im sowjetisch besetzten Ungarn aufleben.
Bulgarien: Nicht überall endete der Kommunismus mit einem großen epochalen Ereignis, sondern er verabschiedete sich in Schüben und auf mannigfaltige Weise. Der bulgarische Soziologe Ivaylo Ditchev beschreibt die neuralgischen Punkte eines langsamen kulturellen Umbruchs.
Postkommunistisches Manifest: Der Philosoph Vaclav Belohradsky aus Prag definiert neun begriffliche Wurzelböden, aus denen eine neue Linke nach dem Fall der Mauer ihre Visionen und Argumente beziehen müsste.

Die Künstler
Siebzig Künstler aus Berlin und aus aller Welt schenkten den Lesern von Lettre International und Berlin eine Arbeit zum Thema.
Künstler, die schon länger in Berlin leben oder aus Berlin kommen: Mark Lammert, Judith Hopf, Jakob Mattner, Hermann Waldenburg, Dieter Appelt, Friederike von Rauch, Heidi Specker, Gerda Leopold, Frauke Eigen, Alexander Polzin, Joachim Richau, Ulrich Wüst, Klaus Staeck, Thomas Hornemann, Brigitte Kowarschik, Dieter Finke, Max Neumann, Laszlo Kerekes, Monika Baer, Jochen Proehl.
Internationale Künstler, die Berlin zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht haben: Danh Vo aus Vietnam, Matthew Antezzo, Maureen Jeram und Bettina Allamoda aus den USA, Hester Oerlemans und Marike Schuurman aus den Niederlanden, Nairi Baghramian aus dem Iran, Daniela Comani und Deborah Ligorio aus Italien, Saadane Afif aus Frankreich, Tal Sterngast aus Israel, Asmund Havsteen-Mikkelsen und Sören Lose aus Dänemark, Bojan Sarcevic aus Serbien, Ewa Einhorn aus Polen, Annika Ström aus Schweden, Dennis Gün aus der Türkei, Mai Hofstad Gunnes aus Norwegen, Boris Mikhailov aus Russland, Barbara Breitenfellner aus Österreich
Internationale und deutsche Künstler, die Berlin kennen und aus der Ferne grüßen: Francesco Clemente, Enzo Cucchi und Giuseppe Penone aus Italien, Philip Rantzer, Uri Katzenstein und Assad Azi aus Israel, John Baldessari, Mike Kelley, Katherine Newbegin, Ilya & Emilia Kabakov, Nathan Carter, Laura Padgett, Lawrence Weiner und Hans Haacke aus den USA, David Godbold aus Irland, Evgen Bavcar aus Slowenien, Jorge Molder und Adriana Molder aus Portugal, Lila Polenaki aus Griechenland, Anne-Mie van Kerckhoven und Marleen Wynants aus Belgien, Andrzej Steinbach aus Polen, Roberto Cabot aus Brasilien, Max Grüter aus der Schweiz, Stephane Duroy aus Frankreich, Ulay aus den Niederlanden. Aus Deutschland Friedemann von Stockhausen, Leif Trenkler, Endy Hupperich

In eigener Sache
Der von Lettre International in den deutschen Sprachraum eingeführte chinesische Autor Liao Yiwu, dessen Buch im Herbst 2009 im S. Fischer Verlag in Deutschland erschienen ist, erhält für eine Podiumsdiskussion im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse von den chinesischen Behörden keine Ausreisegenehmigung und muss mit weiteren Repressalien rechnen. So wurde ihm untersagt, mit ausländischen Journalisten zu reden. Liao Yiwu saß in den neunziger Jahren wegen regimekritischer Äußerungen wiederholt im Gefängnis, wo er Misshandlungen ausgesetzt war.
Die großartigen Texte von Liao Yiwu sind in den Lettre-Ausgaben 79 (2007), 80 (2008), 81 (2008) und 84 (2009) erschienen.

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